Im vorangegangenen Beitrag bin ich, Michael Oehme, darauf eingegangen, wie schwer es offensichtlich für viele Deutsche ist, in der Schweiz auch im Sinne einer neuen Heimat Fuss zu fassen. Und das, obwohl die Schweiz als Beschäftigungsort seit Jahren eine Spitzenposition in Europa einnimmt. So schrieb die Unternehmensberatungsfirma Boston Consulting Group im vergangenen Jahr: „Während die Bereitschaft im Ausland zu arbeiten, global stark abnimmt, gewinnt die Schweiz an Beliebtheit für Arbeitnehmende aus dem Ausland und findet sich neu auf Platz 7 der weltweit beliebtesten Länder für einen Job“. Ich habe im vorangegangenen Beitrag meine Sicht erörtert, warum die einseitige Darstellung wie beispielsweise in 20min.ch zu kurz gegriffen ist. Sind die Schweizer wirklich das abweisende Volk, als das sie manchmal dargestellt werden? Ich meine eher, das Gegenteil ist der Fall. Sonst könnte auch ein Staat mit derart unterschiedlichen Nationalitäten nicht so gut funktionieren, wie er es tut.
Michael Oehme: Jetzt mal ganz von Anfang
Wer die Schweiz, wer die Schweizer (wenn es diese überhaupt gibt; gemeint sind die Menschen, die seit Generationen in der Schweiz leben – gelegentlich ist hier auch von Helvetiern die Rede) dabei besser verstehen will, sollte sich zunächst einmal mit deren Geschichte auseinanderzusetzen. Und da kommt man einfach nicht an der Persönlichkeit Wilhelm Tell vorbei. Ich würde behaupten, viele Schweizer definieren sich immer noch durch seine Charakterzüge. Tell war, der Geschichte nach, unbeugsam, mutig und im wahrsten Sinne des Wortes absolut nicht hoheitshörig. Ob es ihn nun gegeben hat, oder nicht.
Damit ist der Schweizer charakterlich das Gegenstück des guten Deutschen, wenn man seinen Heinrich Mann wie in „Der Untertan“ aufmerksam gelesen hat. Einen interessanten Aspekt spielt dabei die Sprache. Ich meine es überhaupt nicht despektierlich, wenn ich festhalte, dass das Schwizerdütsche eine wesentlich einfachere Sprache ist als das Hochdeutsche (schon aufgrund der wenigeren Worte).
Vom Professor bis zum Bauarbeiter – in der Schweiz spricht man eine gemeinsame Sprache. Eine Abgrenzung findet nicht statt. Eine Sprachkultur, mit deren Hilfe sich beispielsweise der deutsche Hochadel und später der aufkommende Mittelstand vom einfachen Volk abgrenzen wollte, ist den Schweizern fremd. Dies hat auch damit zu tun, als Feudalismus in der Schweiz praktisch keine Rolle gespielt hat und bis heute spielt.
Mutige Appenzeller
So finden sich beispielsweise im Appenzell viele Belege für den Widerstand der einfachen Bergbauern gegen Hohenzoller Ritter. Noch heute geniessen diese Widerstandskämpfer hohen Respekt. Wie die Schweiz insgesamt hat sich auch das Appenzell früh vom Feudalismus losgekoppelt. Es folgte bis heute eine lange Tradition von 600 Jahren Landsgemeinde, was nichts anderes ist als Direktdemokratie auf kantonaler Ebene.
Apropos Direktdemokratie: Auch diese ist typisch für die Schweiz. Für etwas Verantwortung zu übernehmen und mitreden und mitentscheiden zu dürfen. Von der kommunalen Ebene bis zum Bund. Volksentscheide sind das massgebliche politische Mittel in der Schweiz. Dabei kennen die Schweizer Berufspolitiker faktisch nicht. Wie Wolfgang Koydl in seinem sehr lesenswerten Buch „Die Bessermacher“ schreibt: „Politik ist in der Schweiz eher ein Hobby und kein Beruf“. Soll heissen: Politik wird in der Schweiz von Menschen gemacht, die sich vorrangig für ihr Land, für ihr Volk einsetzen. Politik gilt dem Allgemeinwohl.
In Deutschland suche ich dieses oft Verhalten vergebens. Die Arbeit der Politiker wird dabei gnadenlos kontrolliert. Politik zur Profilierung ist Schweizern fremd. Wie ihnen generell Profilierung fremd ist. Daher tun sich die Schweizer auch mit der EU schwer. Warum sich von einer Institution reinregieren lassen, die selbst nur wenig transparent ist und deren direktes positives Ergebnis für die Schweizer nur schwer erkennbar ist. Die direkte Demokratie in der Schweiz? Ich denke, es gibt keinen besseren Weg. Und der Erfolg gibt ihr Recht. Und die gelebten Traditionen in der Schweiz? Immerhin reichen diese aus, dass man sie auf der ganzen Welt und schätzt – und dabei meine ich nicht nur das Schwingen als typische Schweizer Sportart.
Michael Oehme: Was lernen wir daraus?
Als Deutscher, der sich anmasst, die Schweizer verstehen zu wollen, kann man sich eigentlich nur in die Nesseln setzen. Gerade vor dem Hintergrund als wir Deutschen schnell mal den Ruf des Besserwissers haben. Was also tun? Ich habe versucht, einige Besonderheiten aufzuzeigen, die die Schweizer nach meiner Wahrnehmung ausmachen. Aber noch interessanter für mich war, einen gestandenen Schweizer mit dem Beitrag aus 20min.ch zu konfrontieren.
Die Antwort war genauso ehrlich wie überzeugend. Danach fühlen sich viele Schweizer von uns Deutschen eben einfach überrannt. Das Bedürfnis vieler Schweizer nach Ausgewogenheit, während der typische Deutsche gleich mit einer Antwort daherkäme, wäre hierfür ein Auslöser. Man könne schon von einem „Komplex“ sprechen, es allen recht zu machen. Als Komplex würde ich das allerdings nicht bezeichnen. Wer von Ausländern in Deutschland fordert, dass sie sich integrieren sollten, muss sich schon die Frage gefallen lassen, ob wir Deutschen uns denn in der Schweiz integrieren wollen. Mit Anbiedern hat dies nichts zu tun. Mit Verständnis aber durchaus.
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